Die Auswahl dieser modernen Fassung von „Das Buch der Freunde” basiert auf einer Zusammenstellung aus dem Nachlass von Ronald Steckel, der Ende Juni 2024 nach kurzer, schwerer Krankheit in Berlin im Alter von fast 80 Jahren verstorben ist. Ronald Steckel war ein prägender Ideengeber des Verlages, ein Lektor, Schriftsteller, Hörbuchautor, Filmemacher und Multimediakünstler. Sein kreativer Geist, Fleiß, Hilfsbereitschaft und seine unerschöpfliche Inspiration haben unser Schaffen über viele Jahre hinweg maßgeblich beeinflusst. Wir alle vermissen ihn sehr.
Weitere Informationen und einen ausführlichen Nachruf finden Sie hier.
Die Werke von Ronald Steckel in unserem Verlag:
BUCHREIHE: DIE MAGISCHEN BLÄTTER IN 16 BÄNDEN
HÖRSPIELREIHE: ÜBER DIE WIRKLICHKEIT
FILM: MORGENRÖTE IM AUFGANG – HOMMAGE À JACOB BÖHME
„Das Buch der Freunde” erschien 1922 als Sammlung von Aphorismen des österreichischen Dichters Hugo von Hofmannsthal. Kurz nach dem Tode des Autors gab Rudolf Alexander Schröder eine zweite Ausgabe heraus, die er mit Texten aus dem Nachlass erweiterte. Hofmannsthal beschreibt merkwürdige Begebenheiten und präsentiert Einsichten, indem er historische oder literarische Figuren charakterisiert. Zu gleicher Zeit arbeitete der Musiker Egon Wellesz des Jakob-Böhme-Bundes mit Hugo von Hofmannsthal zusammen und vertonte folgende Werke: Achilles auf Skyros, op. 33 (1921), Ballett nach Hugo von Hofmannsthal Alkestis, op. 35 (1923); Libretto von Hugo von Hofmannsthal nach Euripides.
BUCH DER FREUNDE LX
Wir dürfen uns angesichts des grauenhaften Geschehens, das sich heute weltweit vor unser aller Augen ereignet, nicht dazu hinreißen lassen, in Depression oder Verzweiflung zu verfallen. Damit stärken wir lediglich die Position der Niedergängler, die sich nur in der verzweifelten Atmosphäre erhalten können. Jedes Gran Verzweiflung oder Niedergeschlagenheit hilft den immer vorhandenen, negativen Mächten. Ihr Unvermögen, den Plan der geistigen Kräfte zu zerstören, treibt sie in die zerstörende Raserei. Aber das Stille ist stärker als das Laute oder Lärmende. Das Weiche, das Wasser ist – bereits Laotse hat es gewusst – stärker als das Harte, der Stein. Der in sich Gesicherte ist stärker als der absichtsvoll eine materielle Sicherheit Suchende – selbst dann, wenn er von ihm, dem Sicherheit-Sucher getötet wird. Jede echte Stärke ist jedweder Form der Macht überlegen. Die offensichtliche Angst und Besorgtheit der anderen – zumeist artet sie in eine Flucht nach vorn aus, in den Fortschritt oder die Fortschrittsgläubigkeit – sind unsere Stärke. Wir aber sollten diese Angst nicht – wie sie es ihrerseits täten – „nutzen“. Doch sollten wir uns bewusst sein, oder uns doch wenigstens bewusst werden, dass, sagen wir: geistige Kräfte – vor allem jene durch Christus erstmals in der Menschheit erweckten Kräfte der Nächstenliebe, der Liebe – uns zu schützen versuchen.
Wir leben, wer wüsste es nicht, in entscheidenden Jahren. Das ist eine sachliche Feststellung. Uns steht eine Kraft zur Seite und wohnt in uns, die dem Niedergang, der verschlossenen „Innerheit der Welt“, gewachsen ist. Ich habe sie genannt, auf ihre Wirksamkeit hingewiesen. Es wäre wahrlich gut, wir beherzigten sie.
Jean Gebser, Der unsichtbare Ursprung, 1970.
„In gewissem Sinne haben die ganz recht, die lachen, wenn einer sagt, er wolle die Menschheit umgestalten. – Sie übersehen bloss, dass es vollkommen genügt, wenn ein einzelner sich bis in die Wurzeln umgestaltet. Sein Werk kann dann niemals vergehen, – gleichgültig, ob es in der Welt bekannt wird oder nicht. So hat einer ein Loch ins Bestehende gerissen, das nie mehr zuwachsen kann, ob es jetzt die andern gleich bemerken oder eine Million Jahre später. So ein Loch in das Netz zu reissen, in das die Menschheit sich verfangen hat – nicht durch öffentliches Predigen, nein: indem ich selbst der Fessel entrinne, das ist’s was ich will.“
Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht, 1916.
Fan Qi, Landschaft, ~ 1690.
„Ich verfolge die Politik nicht, weil die Mafia und die Kriminellen die Politik gekapert haben.
Ich will daran einfach keine Energie verschwenden, um etwas zu verstehen.
Meine Politik ist die Politik von Minnesängern, Troubadouren und Sufis.
Ich folge der Politik der Göttlichkeit.
Meister Eckhart und Jakob Böhme sind die großartigsten Politiker, die ich kenne.“
Jonas Mekas, Interview, 2018.
Für die Kinder: Die Hügel, die Berghänge der Statistik liegen vor uns.
Der steile Anstieg, wo es mit allem aufwärts geht, aufwärts, während es mit uns allen abwärts geht.
Im nächsten Jahrhundert oder in dem danach, sagen sie, wird es Täler geben, Wiesen, wir können uns dort in Frieden treffen, falls wir es schaffen.
Für den Anstieg auf diese kommenden Gipfel ein Wort an euch, an euch und eure Kinder: bleibt zusammen lernt die Blumen geht leicht.
Gary Snyder, Schildkröteninsel, 1976.
Es gibt nur einen Tempel in der Welt und das ist der menschliche Körper. Nichts ist heiliger als diese hohe Gestalt. Das Bücken vor Menschen ist eine Huldigung dieser Offenbarung im Fleisch. (Göttliche Verehrung des Lingam, des Busens – der Statuen.) Man berührt den Himmel, wenn man einen Menschenleib betastet.
Friedrich von Hardenberg / Novalis, 1799.
Nach neuen Meeren
Dorthin will ich, und ich traue
Mir fortan und meinem Griff.
Offen liegt das Meer, ins Blaue
Treibt mein Genueser Schiff.
Alles glänzt mir neu und neuer,
Mittag schläft auf Raum und Zeit – :
Nur dein Auge – ungeheuer
Blickt’s mich an, Unendlichkeit!
Friedrich Nietzsche, aus den “Liedern des Prinzen Vogelfrei”, 1887.
Er ist der Seher, den man nicht sieht, der Hörer, den man nicht hört, der Denker, den man nicht denkt, der Erkenner, den man nicht erkennt; es gibt keinen anderen Seher, es gibt keinen anderen Hörer, es gibt keinen anderen Denker, es gibt keinen anderen Erkenner, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der Unsterbliche. Leidvoll ist alles andere.
Brihad-Âranyaka-Upanishad, ~ 700–500 v. Chr.
BESCHREIBUNG DER DREY PRINCIPIEN GÖTTLICHES WESENS
Michael Andreæ, Illustration zu Jacob Böhme, Amsterdam 1682.
Eines zu sein mit Allem, das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen.
Eines zu sein mit Allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert und das kochende Meer der Woge des Kornfelds gleicht. Eines zu sein mit allem, was lebt!
Friedrich Hölderlin, Hyperion, 1797.
Epirrhema
Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten:
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen;
Denn was innen, das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis.
Freuet euch des wahren Scheins,
Euch des ernsten Spieles:
Kein Lebendiges ist ein Eins,
Immer ists ein Vieles.
Johann Wolfgang Goethe, 1818/19.
Denn der Mensch ist das grösseste Geheimnis, das Gott gewirket hat. Jacob Böhme,
Von der Menschwerdung Jesu Christi I, 5, 23, 1620.
Es gibt kein grösseres Mysterium als dieses: dass wir, die wir die wahre Wirklichkeit sind, uns nach Befreiung sehnen. Wir bilden uns ein, dass es etwas gäbe, das unsere Wirklichkeit vor uns verbirgt, und dass dies zerstört werden müsse, bevor wir die Wirklichkeit gewinnen können. Das ist geradezu lächerlich. Und es wird ein Tag heraufdämmern, an dem diejenigen, die auf der Suche nach Befreiung zu mir kommen, über ihre vergangenen Mühen lachen werden. Aber das, was an jenem Tag dieses Lachens da sein wird, das ist jetzt und hier bereits gegenwärtig. Ist das nicht das Wunder aller Wunder?
Ramana Maharshi, ~ 1925.
G r a m m a t i k. Der Mensch spricht nicht allein – auch das Universum s p r i c h t – alles spricht – unendliche Sprachen. / Lehre von den Signaturen.
Novalis, Die Enzyklopädie, Fragment 479, 1798/99.
Das Leben des Menschen ist schnell vorüber wie der Schein eines weissen Rosses, der durch eine Spalte fällt; im Augenblick ist es vergangen. Schäumend und wild treten sie alle ins Leben ein; sachte und glatt gehen sie alle wieder hinaus. Sie machen eine Verwandlung durch und werden geboren; eine weitere Verwandlung, und sie sterben. Die lebenden Geschöpfe empfinden darüber Trauer, die Geschlechter der Menschen führen darüber Klage, und doch lösen sich nur die Schranken der Natur und fallen ab die Hüllen der Natur. Verwirrt und geblendet fährt die Seele dahin und der Leib zerfällt. Das ist die grosse Heimkehr. Dass das Sichtbare aus dem Unsichtbaren kommt und wieder zurückkehrt zum Unsichtbaren: ist das etwas, das alle Menschen wissen? Aber es macht dem, der im Begriff ist, das Ziel zu erreichen, keine Sorgen. Es hat keinen Wert, deutlich sehen zu wollen; darum ist besser als Beweisen das Schweigen. Den SINN kann man nicht vernehmen. Darum ist besser als Horchen die Ohren zu schliessen. Das ist das grosse Erreichen.
Zhuangzi, Das wahre Buch vom Südlichen Blütenland, XXII, 4, ~300 v. Chr.
Du musst aber hier deinen Sinn im Geist erheben, und betrachten, wie die ganze Natur mit allen Kräften, die in der Natur sind, dazu die Weite, Tiefe, Höhe, Himmel, Erde und alles, was darinnen ist, und über dem Himmel, sei der Leib Gottes.
Jacob Böhme, Morgenröte im Aufgang 2,16, 1612.
Verachte keinen Menschen.
Pirke Awot, Sprüche der Väter, ~ 200.
Wir brauchen eine neue Offenbarung, eine, die die Hinfälligkeit derer verkündet, denen wir anhängen, aber die, denen wir anhängen, sind da, ihr tödliches Gewicht verbündet sich mit dem Verhängnis, das uns zermalmt, Ordnung und Chaos bilden ein Ganzes, das wir nicht zu zerbrechen vermögen. Die Anarchisten und die Nihilisten sind die letzten vernünftigen und sensiblen Menschen unter den Tauben, die marschieren, und den Blinden, die kämpfen, aber es genügt im jetzigen Zeitalter weder, Recht zu haben, noch zu fühlen, um irgend etwas zu verändern, die Ordnung muß durch eine Ordnung und nicht durch eine Unordnung ersetzt werden und die Moral durch eine Moral und nicht durch Unmoral, so wie der Glaube durch einen Glauben ersetzt werden muß, und nicht bloß durch eine Leere und die toten Götter durch neugeborene Gottheiten. Wir brauchen keine Aufwiegler, sondern Propheten, wir brauchen religiöse Genies auf der Höhe dieser Zeiten und unserer Werke.
Albert Caraco, Brevier des Chaos 18, 1982.
VON DER GNADEN-WAHL
Michael Andreæ, Illustration zu Jacob Böhme,
„Von der Gnaden-Wahl“, Amsterdam 1682.
Das Vermögen, jedes Sinnliche zu veredeln und den totesten Stoff durch Vermählung mit der geistigen Idee zu beleben, ist die sicherste Bürgschaft unseres überirdischen Ursprungs, und wie sehr wir auch durch tausend und abertausend Erscheinungen dieser Erde angezogen und gefesselt werden, so zwingt uns doch eine innige Sehnsucht, den Blick immer wieder zum Himmel zu erheben, weil ein unerklärbares, tiefes Gefühl uns die Überzeugung gibt, dass wir Bürger jener Welten sind, die geheimnisvoll über uns leuchten, und wir einst dahin zurückkehren werden.
Goethe, Gespräche, 1818.
Nicht wie die Welt ist, sondern dass sie ist, ist das Mystische.
Ludwig Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung, Satz 6.44, 1918.
Wie lange werden wir uns noch täuschen dürfen? Alle Fristen laufen ab, die Zahl der Menschen schwillt an wie ein Meer, auf dem sich die Stürme entfesseln werden, der ausgelaugte Boden erschöpft unsere Kraft, überall wird das Wasser fehlen, und die Luft ist bereits knapp, die Lebensmittel haben immer weniger Gehalt, und Abfälle, alles, vergiftend, verstopfen die Ökumene. Wird die Stunde der Wahrheit auch die unseres Todeskampfes sein? Was werden wir unserem Tod entgegensetzen? Die Verordnungen unserer Staatschefs oder die Gebete unserer Geistlichen? Was nützen sie uns, diese Parasiten und Stifter der Unordnung? Die einen führen uns in die Auflösung, die anderen segnen sie, wobei sie uns ermahnen, und ermahnen jene, während sie uns segnen, wir gehen ruhigen Schrittes auf das Chaos zu, mit dem Herzen voller Hoffnung, vom Schlaraffenland träumend, das die Wissenschaft uns und unseren dreißig Milliarden Kindern und Kindeskindern bescheren wird, zu dem Zeitpunkt, da die hundert Nationen nur noch ein Volk bilden und die drei Rassen nur noch eine Rasse sein werden. Wie lange werden wir uns noch täuschen dürfen, unsere Evidenz missachtend, in der Hoffnung, daß das Unmögliche eintreffe? Denn der Mensch wird nicht überwunden werden, was auch geschehen möge.
Albert Caraco, Brevier des Chaos 104, 1982.
Wer jetzt nicht zaubern kann, der ist verloren.
Ludwig Hohl, Notizen, Varia, 1937.
Wir erleben im Augenblick einen Wechsel des Zeitalters.
Zeitalter der Industrie, des Erdöls, der Elektrizität und des Atoms. Maschinenzeitalter. Zeitalter der großen Kollektive und der Wissenschaft… Die Zukunft wird entscheiden, welcher Name die Ära, in die wir eben eintreten, am besten kennzeichnet. Doch die Bezeichnung ist nicht so wichtig. Bedeutsam hingegen ist die Tatsache, dass wir uns sagen können, um den Preis unserer Leiden vollziehe sich ein neuer Schritt, ein entscheidender Schritt des Lebens in uns und um uns. Nach der langen Reifezeit während der scheinbaren Regungslosigkeit der ackerbautreibenden Jahrhunderte hat endlich die Stunde einer neuen Zustandsänderung geschlagen. Freilich ist sie von unvermeidlichen Ängsten begleitet. Unsere Ursprünge hatten die ersten Menschen zu Zeugen. Auch die großen Endszenen werden sich vor Menschen abspielen. Wir, mit unserer eigenen kurzen Existenz, haben das Glück und die Ehre, Zeitgenossen einer Mutation der Noosphäre zu sein.
Pierre Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos, 1938-1940.
Der Eine Geist ist die reine Quelle, die allen Menschen innewohnt. Alle sich bewegenden Wesen, die vom Leben durchpulst sind, bestehen aus dieser Einen Substanz und unterscheiden sich nicht voneinander. Unsere ursprüngliche Natur ist in Wahrheit ohne die geringste Gegenständlichkeit. Sie ist leer, allgegenwärtig, schweigsam, rein. Sie ist herrlich und geheimnisvoll friedliche Freude, nichts anderes. Dieser reine Geist, die Quelle von allem, scheint für immer und auf alle mit dem Glanz seiner eigenen Vollendung. Volles Verständnis kann nur durch ein unausdrückbares Geheimnis kommen. Der Zugang zu ihm heisst der Torweg der Stille jenseits aller Tätigkeit.
Huang Bo Xiyun, Der Eine Geist, ~ 850.
Darum soll sich keiner selber stockblind machen, denn die Zeit der Wiederbringung, was der Mensch verloren hat, die ist nunmehr vorhanden, die Morgenröte bricht an. Es ist Zeit, vom Schlafe aufzuwachen.
Jacob Böhme, Morgenröte im Aufgang, 13, 4, 1612.
Der Mensch ist nicht nur natürliches Wesen, sondern auch übernatürliches Wesen, ein Wesen göttlicher Herkunft und göttlicher Bestimmung, ein Wesen, welches zwar in dieser Welt lebt, aber nicht von dieser Welt ist.
Nikolai A. Berdjajew, Der Sinn des Schaffens, 1925.
O glaube nicht, dass du nicht seiest mitgezählt;
Die Weltzahl ist nicht voll, wenn deine Ziffer fehlt.
Die große Rechnung zwar ist ohne dich gemacht,
Allein du selber bist in Rechnung mitgebracht.
Ja mitgerechnet ist auf dich in alle Weise;
Dein kleiner Ring greift ein in jene größeren Kreise.
Zum Guten, Schönen will vom mangelhaften Bösen
Die Welt erlöst sein, und sollst sie mit erlösen.
Vom Bösen mache dich, vom Mangelhaften frei;
Zur Güt‘ und Schöne so der Welten trägst du bei.
Friedrich Rückert, 1850.
Denn dass der Mensch redet und verstehet, das kommt nicht aus den Sternen und Elementen, sonst könntens andere Creaturen auch: Es kommt dem Menschen aus dem eingeleibten, geformten Worte Gottes her.
Jacob Böhme, Mysterium Magnum, 36, 85, 1623.
Der Mensch kann jeden Augenblick durch das Wort über seine Struktur und über seine Vergangenheit hinausgelangen. Das Tier ist, da es das Wort nicht hat, in sich gefangen. Der Mensch wird andauernd durch das Wort, das Tier bleibt andauernd Tier. Das Tier ist auch in der Welt gefangen: „Dem stummen Tier ist die Welt ein Eindruck.“ (Jean Paul)
Die Gestik des Menschen, seine Ausdrucksbewegungen, sind anders als beim Tier. Beim Tier sind sie Ersatz für das fehlende Wort – beim Menschen sind sie das Gegenteil des Ersatzes, sie sind Überfluss des Wortes, allzugefülltes Wort, das in den Körpern überfließt und den Körper teilnehmen lässt am Wort und am Geist.
Max Picard, Der Mensch und das Wort, 1955.
Der Rationalismus, der sich heute in einer Sackgasse befindet, kämpft verzweifelt mit allen irgend erdenkbaren Mitteln gegen das Heraufkommen des neuen Bewusstseins an. Er hofft, sich dadurch zu retten. Sollte das nicht gelingen, was anzunehmen ist, so ist er willens, alles in seinen eigenen Untergang mitzureißen. Beispiele dafür haben wir ja schon erlebt. Die Ansätze dafür sind bereits vorhanden. Dies sind die offenen Möglichkeiten zum endgültigen Verlust des Offenen: unseres geistigen Ursprungs. Hölderlin, als er das einzigartige Wort von der „Innerheit der Welt“ in einem seiner Gedichte aus der Spätzeit, „Aussicht“, prägte, ahnte mit seiner Feststellung diese Möglichkeit voraus: Oft scheint die Innerheit der Welt verschlossen / Des Menschen Sinn von Zweifeln voll, verdrossen…
Unmenschlicher Eigennutz, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, hat bereits die Verpestung der wichtigsten Elemente des Lebens, die der Luft, des Wassers und des Bodens mit sich gebracht. Die kommenden Generationen werden uns wegen dieser von uns eingeleiteten Evolution nach unten verfluchen. Bekämpfen also (und damit handgemein mit ihnen werden) können wir diese zerstörerischen Mächte nicht. Nehmen wir den Kampf gegen diese Art bezweckter Evolution an, so stärken wir sie. Aber wir können versuchen, durch unsere innerste Sicherheit und die Gewissheit unserer Teilhabe am geistig geprägten Unsichtbaren bremsend und damit hindernd zu wirken. Es ist tragisch genug, dass die Mehrheit der Menschheit immer nur durch Katastrophen belehrt werden konnte. Diese müssen anscheinend noch grauenhafterer Art sein als es die beiden letzten Kriege waren, denn diese Weltkriege haben nicht das bewirkt, was sie, wie man meinen sollte, hätten bewirken sollen. So gesehen, ist die Aktivität derer, die eine bereits verlorene Position mit allen Mitteln der Macht nicht nur zu halten, sondern auszubauen versuchen, die tragische Herausforderung, die notwendig ist, um dem neuen Bewusstsein, das wahrscheinlich der einzige Bürge für den Weiterbestand der Menschheit ist, zum Durchbruch zu verhelfen.
Jean Gebser, Der unsichtbare Ursprung, 1970.
Das Paradeis ist noch in der Welt, aber der Mensch ist nicht darinnen.
Jacob Böhme, Von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen, 8, 47, 1622.
VON DER GEBURT UND BEZEICHNUNG ALLER WESEN
Michael Andreae, Kupferstich zu Jacob Böhme,
„Von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen“, Amsterdam 1682.
Ob mit offenen
oder geschlossenen Augen –
immer finden wir.
Selbst im Ekel,
im Abgrund und im Überdruss
finden wir.
Wols (Otto Alfred Wolfgang Schulze), Aufzeichnungen, ca. 1950.
Worauf es mir in meiner Arbeit vor allem ankommt, ist die Idealität, die sich hinter der scheinbaren Realität befindet. Ich suche aus der gegebenen Gegenwart die Brücke zum Unsichtbaren – ähnlich wie ein berühmter Kabbalist es einmal gesagt hat: „Willst du das Unsichtbare fassen, dringe, so tief du kannst, ein – in das Sichtbare.“ Es handelt sich für mich immer wieder darum, die Magie der Realität zu erfassen und diese Realität in Malerei zu übersetzen. – Das Unsichtbare sichtbar machen durch die Realität. – Das mag vielleicht paradox klingen – es ist aber wirklich die Realität, die das eigentliche Mysterium des Daseins bildet!
Raum – Raum – und nochmals Raum – die unendliche Gottheit, die uns umgibt und in der wir selber sind. Dies suche ich zu gestalten durch Malerei.
Max Beckmann, Über meine Malerei, 1938.
Das Wort „sein“ bedeutet im Deutschen beides: Dasein und Ihmgehören.
Franz Kafka, Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg, 1917/18.
Man kann nichts Besseres tun, als überall, unter allen Umständen, an allen Orten und zu allen Zeiten den Gedanken an Gott festzuhalten und immer mehr über Ihn zu lernen trachten, sowohl aus der Bibel als auch aus allen anderen Dingen. Es ist gut, bei dem Glauben zu bleiben, dass alles über menschliches Begreifen hinaus wunderbar ist, denn das ist die Wahrheit; es ist gut, sich ein weiches, demütiges und zartfühlendes Herz zu bewahren, auch wenn man dieses Fühlen manchmal verbergen muss, denn das ist oft nötig; es ist gut, viel zu wissen von den Dingen, die den Weisen und Verständigen dieser Welt verborgen bleiben, die aber wie von Natur den Armen und Einfältigen, den Frauen und Kindern offenbart sind. Denn was könnte man Besseres lernen als das, was Gott von Natur in jede Menschenseele gelegt hat, und was im Tiefsten jeder Seele lebt und liebt, hofft und glaubt, wenn es nicht mutwillig vernichtet wird.
Nichts Geringeres tut uns not als das Unendliche und das Wunderbare, und der Mensch tut gut daran, sich mit nichts Geringerem zufrieden zu geben und sich nicht geborgen zu fühlen, solange er das nicht erlangt hat. (…) Lasst uns also still und ruhig weitergehen, jeder auf seinem Wege, stets auf das Licht „sursum corda“ zu, als Menschen, die wissen, dass wir sind, was andere sind, und dass andere sind, was wir sind, und dass es gut ist, einander zu lieben mit Liebe von der besten Art, die alles glaubt und alles hofft und alles duldet und nimmer aufhört. Und nicht allzu bekümmert zu sein, wenn wir Fehler haben, denn wer keinen hat, der hat doch einen Fehler, nämlich den, dass er keinen hat, und wer vollkommen weise zu sein glaubt, der täte gut daran, wieder von Anfang an töricht zu werden.
Vincent van Gogh, Brief an seinen Bruder Theo, April 1878.
Wie weit ist es?
Wie weit entfernt ist das Mondlicht vom Mond?
Wie weit entfernt ist der Kandisgeschmack von der Lippe?
Dschelal ed-Din Rumi, Mathnawi, ~ 1270.
Wir erleben eine Epoche, die sich mit keiner früheren vergleichen lässt.
Es genügt heute nicht, ein Heiliger zu sein; es bedarf der Heiligkeit, die der gegenwärtige Augenblick fordert, einer neuen Heiligkeit, wie es sie früher nie gegeben hat.
Ein neuer Typus der Heiligkeit, das ist wie der Ausbruch eines innersten Quells, das ist eine Erfindung. Es ist beinahe so etwas wie eine neue Offenbarung des Weltalls und der menschlichen Bestimmung. Es ist die Freilegung eines weiten Bereiches von Wahrheit und Schönheit, der bis dahin unter einer dicken Staubschicht verborgen war. Hierzu bedarf es eines grösseren Genies, als Archimedes es brauchte, um die Mechanik und die Physik zu erfinden. Eine neue Heiligkeit ist eine sehr viel wunderbarere Erfindung.
Nur eine Art von Perversität kann die Freunde Gottes veranlassen, sich dessen zu berauben, dass sie Genie haben; denn um einen Überreichtum an Genie zu empfangen, genügt es, dass sie es im Namen Christi von ihrem Vater erbitten.
Dies ist, wenigstens heutigen Tages, eine berechtigte Bitte, denn sie ist notwendig. Ich glaube, dies ist, in dieser Form oder in irgendeiner gleichwertigen, heute die erste Bitte, die man alle Tage, alle Stunden tun sollte, wie ein hungriges Kind immer nach Brot verlangt. Die Welt bedarf der genialen Heiligen, wie eine Stadt, in der die Pest wütet, der Ärzte bedarf.
Simone Weil, Brief an Pater Perrin, 26.5.1942.
Alles wirklich Gesehene ist schön.
Constantin Brancusi, ~1947.
DIE GELASSENHEIT
Michael Andreae, Kupferstich zu Jacob Böhme,
„Von der wahren Gelassenheit“, Amsterdam 1682.
Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen!
Das Ewige regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig, denn Gesetze
Bewahren die lebendigen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.
Das Wahre war schon längst gefunden,
hat edle Geisterschaft verbunden,
das alte Wahre, fass es an!
Johann Wolfgang Goethe, Vermächtnis, 1828
Es gibt keinen besseren Weg als die Erleuchtung.
Zhuangzi, Das wahre Buch vom Südlichen Blütenland, II, 4, ~ 300 v. Chr.
„Es heißt, dass alle Wesen die Buddha-Natur besitzen. Wie kommt es, dass sie es nicht wissen?“ „Sie wissen es.“
Anonym, aus der Zen-Tradition.
Der vollkommen Besonnene heißt der Seher.
Als irdische Wesen streben wir nach geistiger Ausbildung – nach Geist überhaupt.
Als außerirdische, geistige Wesen, nach irdischer Ausbildung – nach Körper überhaupt.
Nur durch Sittlichkeit gelangen wir beide zu unsern Zwecken. Ein Dämon, der erscheinen kann – wirklich erscheinen – muss ein guter Geist sein. So wie der Mensch (der wirklich Wunder tun kann) – der wirklich mit den Geistern Umgang pflegen kann. Ein Mensch, der Geist wird – ist zugleich ein Geist, der Körper wird. Diese höhere Art von Tod, wenn ich mich so ausdrücken darf, hat mit dem gemeinen Tode nichts zu schaffen – es wird etwas sein, was wir Verklärung nennen können.
Der jüngste Tag wird kein einzelner Tag, sondern nichts als diejenige Periode sein, die man auch das tausendjährige Reich nennt.
Jeder Mensch kann seinen Jüngsten Tag durch Sittlichkeit herbeirufen. Unter uns währt das tausendjährige Reich beständig. Die Besten unter uns, die schon bei ihren Lebzeiten zu der Geisterwelt gelangten – sterben nur scheinbar; sie lassen sich nur scheinbar sterben – so erscheinen auch die guten Geister, die bis zur Gemeinschaft mit der Körperwelt ihrerseits gelangten, nicht, um uns nicht zu stören. Wer hier nicht zur Vollendung gelangt, gelangt vielleicht drüben – oder muss eine abermalige irdische Laufbahn beginnen.
Sollte es nicht auch drüben einen Tod geben, dessen Resultat irdische Geburt wäre.
So wäre das Menschengeschlecht kleiner – an Zahl geringer, als wir dächten. Doch es lässt sich auch noch anders denken.
Gespenster – indirekte, falsche, täuschende Verklärung – Resultat der Verfinsterung. Nur dem Weisen, dem schon hienieden Verklärten, erscheinen verkörperte Geister.
Friedrich von Hardenberg/Novalis, Naturwissenschaftliche Studien, 1798 – 1799.
Das Herz ist herrlicher, weiter, feiner und strahlender als der Himmel und als die kreisenden Sphären.
Warum zurrst du es also zusammen mit deinen Gedanken und deinen flüsternden Zweifeln?
Welchen Grund hast du, aus der freundlichen Welt ein enges Gefängnis zu machen?
Wie kannst du diesen Welt-Garten nur zum Gefängnis machen?
Wie eine Raupe webst du ein Netz aus Gedanken, flüsternden Zweifeln und verantwortungslosen Ideen rund um dein Ego herum.
Dann wirst du zu seinem Gefangenen und erstickst.
Was mich betrifft, ich habe einen Garten aus diesem Gefängnis gemacht.
Wenn also schon mein Gefängnis ein Garten ist, rate mal, wie herrlich mein wirklicher Garten ist!
Shams von Täbriz, der geistige Lehrer und Geliebte Dschelal ed-Din Rumis, ca. 1250.
Das Höchste, was wir von Gott und der Natur erhalten haben, ist das Leben, die rotierende Bewegung der Monas um sich selbst, welche weder Rast noch Ruhe kennt; der Trieb, das Leben zu hegen und zu pflegen, ist einem jeden unverwüstlich eingeboren, die Eigentümlichkeit desselben jedoch bleibt uns und anderen ein Geheimnis.
Die zweite Gunst der von oben wirkenden Wesen ist das Erlebte, das Gewahrwerden, das Eingreifen der lebendig-beweglichen Monas in die Umgebungen der Außenwelt, wodurch sie sich erst selbst als innerlich Grenzenloses, als äußerlich Begrenztes gewahr wird. Über dieses Erlebte können wir, obgleich Anlage, Aufmerksamkeit und Glück dazugehört, in uns selbst klar werden; andern bleibt aber auch dieses immer ein Geheimnis.
Goethe, Aus den Heften zur Morphologie, Ersten Bandes viertes Heft, 1822.
In meinen eigenen Kräften bin ich so ein blinder Mensch als irgend einer ist, und vermag nichtes; aber im Geiste GOttes siehet mein ingeborner Geist durch Alles, aber nicht immerdar beharrlich; sondern wenn der Geist der Liebe GOttes durch meinen Geist durchbricht, alsdann ist die animalische (seelische) Geburt und die Gottheit ein Wesen, eine Begreiflichkeit und ein Licht.
Nicht bin allein Ich also; sondern es sind alle Menschen also, es seyn gleich Christen, Juden, Türcken oder Heiden, in welchem die Liebe und Sanftmuth ist, in dem ist auch GOttes Licht.
Woltest du sagen: nein? Es leben die Türcken, Juden und Heiden ja auch in demselben Corpus, darinnen du lebest, und brauchen auch desselben Leibes Kraft, die du brauchest, darzu haben sie auch denselben Leib, den du hast, und derselbe GOtt, der dein GOtt ist, ist auch ihr GOtt.
Jacob Böhme, Morgenröte im Aufgang, 22, 51-53, 1612.
Ohne die Wonne
Rabbi Schlomo von Karlin sprach: Wer alle Gebote der Thora erfüllte, aber den Brand der heiligen Wonne hat er dabei nicht verspürt, wenn der in jene Welt kommt, öffnet man ihm zwar das Paradies; weil er aber auf dieser Welt den Brand der Wonne nicht verspürt hat, verspürt er auch die Wonne des Paradieses nicht. Ist er nun ein Narr und beschwert sich und brummt: ‚Und da machen sie so viel Wesens aus dem Paradies!‘, schon ist er hinausgeschmissen. Hat er aber Einsicht, dann wandert er selber hinaus und zum Zaddik, und der lehrt die arme Seele die Wonne verspüren.“
Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, 1949.
Gebet für die Große Familie
Dankbarkeit der Mutter Erde, segelnd durch den Tag und durch die Nacht –
und ihrem Boden: reich, kostbar und süß
so möge es sein in unserem Geist.
Dankbarkeit den Pflanzen, dem sonnenschauenden lichtverwandelnden Blatt
und den feinen Wurzelhaaren; still stehend in Wind und Regen;
ihr Tanz ist im fließenden spiraligen Samen
so möge es sein in unserem Geist.
Dankbarkeit der Luft, die die segelnde Schwalbe trägt
und die schweigende Eule zur Dämmerung. Atem unseres Liedes,
klarer Atem des Geistes
so möge es sein in unserem Geist.
Dankbarkeit den wilden Wesen, unseren Brüdern, die Geheimnisse lehren
und Freiheiten und Wege; die ihre Milch mit uns teilen;
selbstgenügsam, tapfer und wach.
so möge es sein in unserem Geist.
Dankbarkeit dem Wasser: Wolken, Seen, Flüsse, Gletscher;
sammelnd oder verströmend; fließend durch alle salzigen Meere
unserer Körper
so möge es sein in unserem Geist.
Dankbarkeit der Sonne: blendendes pulsierendes Licht
durch die Stämme der Bäume, durch Nebel, wärmend die Höhlen
des Schlafes der Bären und Schlangen – sie, die uns erweckt –
so möge es sein in unserem Geist.
Dankbarkeit dem Großen Himmel
der Milliarden Sterne trägt – und weit darüber hinausgeht –
über alle Mächte, alle Gedanken
und der doch in uns ist –
Großvater Raum.
Die Seele ist sein Weib.
so möge es sein.
Gary Snyder, Schildkröteninsel, 1974.
Die Sufis sagen, dass fast jeder Mensch mit der Möglichkeit zur inneren Entwicklung geboren wird, doch dass seine Eltern und seine Umgebung ihn zu einem Juden, einem Christen, einem Hindu oder einem Magier machen und dass er schon bald Vorurteile erwirbt und ungeachtet seiner eigenen Erfahrungen und Überlegungen das akzeptiert, was die anderen sagen. Das wird sein Hindernis. Wenn ein „Gläubiger“ – einer, der an sich gearbeitet hat – stirbt, geht seine Seele in jenen Himmel ein, der dem Zustand der Vollkommenheit entspricht, den sie erlangt hat. Doch gleichgültig, über wieviel „Wissen“ ein Mensch verfügt – solange er sich nicht gewissenhaft geprüft und sich eingestanden hat, dass er in Wirklichkeit gar nichts weiß, ist alles, was er erworben hat, nichts weiter als „der Wind in seiner Hand“.
C.S. Nott, Nachwort zu Farid Ud-Din Attars „The Conference of the Birds“, 1954.
Wenn alle Menschen eine Seele hätten,
wäre die Erde seit langem kein Ort mehr
für giftige Pflanzen und bösartige Tiere.
Und selbst das Böse hätte aufgehört zu existieren.
Iranisches Volkslied
Daseins-Pflicht bedeutet Pflicht in drei Ebenen und gleichzeitig bewusste Anstrengung und freiwilliges Leiden. Es ist die intellektuelle Pflicht, sich um die Erkenntnis der Bedeutung und des Ziels der Existenz zu bemühen, die emotionale Pflicht, die Last der Erhaltung aller Lebewesen zu fühlen, und die physische Pflicht, den planetarischen Körper zum Diener Ihres Zieles zu machen. Es ist mir noch nie gelungen, Ihnen das Gefühl der Schuld nahezubringen, die jeder von uns trägt, weil er inkarniert worden ist. Alles, was wir „natürlich“ nennen, ist geschaffen von Wesen, die über uns stehen, zur Verfügung gestellt mit großen Kosten, damit wir Erfahrungen machen können. Existenz – die Teilnahme an den Erfahrungen der Inkarnation – kostet jemanden etwas. Diese Verpflichtung zu fühlen, bedeutet, zu verstehen, was „für die eigene Existenz bezahlen“ bedeutet. Sie nicht zu fühlen, ist ein Zeichen von Abnormalität und der Unfähigkeit, auch nur den geringsten Begriff von Gerechtigkeit zu entwickeln. Wir messen dem Leben einen unermesslichen Wert bei, einem langen und glücklichen Leben, vor allem aber einem langen. Die Verpflichtung, die aus unserem Leben hervorgeht, ist nicht etwas, das ein Mensch fühlen sollte, sondern etwas, das von einem normalen Menschen gefühlt wird.
G. I. Gurdjieffs Verständnis von Daseins-Pflicht, erläutert von A. R. Orage; in: C. S. Nott, Teachings of Gurdjieff, 1961.
DAS SCHWARZE QUADRAT
Kazimir Maleviç, Schwarzes Quadrat, 1915.
Ich werde dem nicht dienen, an das ich nicht länger glaube, ob es sich Heimat, Vaterland oder Kirche nennt: und ich werde versuchen, mich in irgendeiner Art des Lebens oder der Kunst auszudrücken, so frei ich kann und so vollständig ich kann, und zu meiner Verteidigung nur die Waffen gebrauchen, die zu gebrauchen ich mir selbst gestatte: Schweigen, Verbannung, List.
Ich habe keine Angst vor der Einsamkeit, keine Angst, um eines anderen willen verschmäht zu werden, keine Angst davor, aufzugeben, was ich aufgeben muss. Und ich habe keine Angst, einen Fehler zu begehen, selbst einen großen Fehler, auch wenn er mein ganzes Leben oder die Ewigkeit hindurch dauert.
Willkommen, o Leben! Ich gehe, zum millionsten Mal der Wirklichkeit der Erfahrung zu begegnen und in der Schmiede meiner Seele das unerschaffene Gewissen meiner Mitmenschen zu formen.
Alter Vater, alter Baumeister, steh mir bei, jetzt und immerdar.
James Joyce, Portrait des Künstlers als junger Mann, 1920.
MORGENRÖTE IM AUFGANG
Michael Andreae, Detail des Titelkupfers zu Jacob Böhme,
„Aurora oder Morgenröte im Aufgang“, Amsterdam 1682.
Gott selber kann Geschehenes nicht ungeschehen machen.
Was wäre ein besserer Beweis dafür,
dass die Schöpfung Abdankung ist?
Was wäre eine größere Abdankung Gottes als die Zeit?
Wir sind Verlassene in der Zeit.
Gott ist nicht in der Zeit.
Gott hat sich seiner Gottheit entleert
und hat uns mit einer falschen Göttlichkeit erfüllt.
Entleeren wir uns ihrer!
Auf diesen Akt ist der Akt, der uns geschaffen hat, gerichtet.
In diesem Augenblick erhält Gott mich durch seinen Schöpferwillen im Dasein,
damit ich darauf verzichte.
Gott wartet geduldig, dass ich endlich einwillige, ihn zu lieben.
Gott wartet wie ein Bettler, der reglos und schweigend vor jemand steht,
der ihm vielleicht ein Stück Brot geben wird.
Die Zeit ist dieses Warten.
Die Zeit ist das Warten Gottes, der um unsere Liebe bettelt.
Die Gestirne, die Berge, das Meer, alles, was von der Zeit zu uns spricht,
bringt uns Gottes flehentliche Bitte.
Die Demut in der Erwartung macht uns Gott ähnlich.
Gott ist nur das Gute.
Darum steht er da und wartet, schweigend.
Die schamhaften Bettler sind Seine Bilder.
Die Demut ist ein gewisses Verhältnis der Seele zur Zeit.
Sie ist Hinnahme des Wartens.
Gott hat uns in die Zeit hinein verlassen.
Gott und die Menschheit sind wie ein Liebender und eine Geliebte,
die einem Irrtum über den Ort des Stelldicheins erlegen sind.
Jeder hat sich vor der Zeit eingefunden,
doch jeder an einer anderen Stelle,
und sie warten, warten, warten.
Unbeweglich steht der Liebende da, festgenagelt für alle Zeiten.
Die Liebende ist zerstreut und ungeduldig.
Wehe ihr, wenn sie genug hat und davongeht!
Denn die beiden Punkte, an denen sie sich befinden,
sind derselbe Punkt in der vierten Dimension.
Wir haben unser Ich in der Zeit.
Betrachtet man den angenehmen oder schmerzhaften Inhalt jeder Minute
(selbst jener, wo wir sündigen) als eine besondere Liebkosung Gottes,
wodurch dann trennt die Zeit uns von dem Himmel?
Die Verlassenheit, in der Gott uns lässt,
ist seine besondere Art und Weise, uns zu liebkosen.
Die Zeit, die unser einziges Elend ist,
ist selber die Berührung seiner Hand.
Sie ist die Abdankung, kraft derer wir ihm das Dasein verdanken.
Er hält sich fern von uns, denn wenn er sich näherte,
Er machte uns verschwinden.
Er wartet, dass wir uns ihm nähern und verschwinden.
Simone Weil, Cahiers, Heft 15, 1942.
Ich trage in meinem Wissen nicht erst Buchstaben zusammen aus vielen Büchern, sondern ich habe den Buchstaben in mir. Liegt doch Himmel und Erde mit allen Wesen, darzu Gott selber, im Menschen: soll er denn in dem Buche nicht lesen dürfen, das er selber ist?
Wenn ich gleich kein ander Buch hätte, als nur mein Buch, das ich selber bin, so hab ich Bücher genug. Liegt doch die ganze Bibel in mir. So ich Christi Geist habe, was (be)darf ich denn mehr Bücher? Soll ich wider das zancken, das ausser mir ist, ehe ich lerne kennen, was in mir ist?
So ich mich selber lese, so lese ich in Gottes Buch, und ihr, meine lieben Brüder, seyd alle meine Buchstaben, die ich in mir lese. Denn mein Gemüth und Wille findet euch in mir; ich wünsche von Herzen, dass ihr mich auch findet.
Jacob Böhme, Zweyte Schutz-Schrift wieder Balthasar Tilken, 297 – 299, 1621.
Kunst bedeutet nicht Licht zu bringen, sondern Licht zu sein. Wie könnte der Engel unter den Dingen der Welt unwirklich sein! Wenn ihr nichts verherrlichen könnt, haltet den Mund um Gottes willen haltet den Mund!
Durch Äußerlichkeiten geschieht nichts. Welch ein wundervolles und schönes Unterfangen, ein Mensch zu sein!
Da habt ihr euer Geheimnis.
Liebt die Kunst und das Schöne oder zum Teufel mit euch.
Das Billige der Dinge weise ich zurück. In Gott zu sein, das ist mein Wesen, ob es euch passt oder nicht. Ich werde dich weiter besingen, wie immer das Urteil ausfallen mag.
Lest diese Worte und es ist eine Tat bei Gott ich setze diese Worte denn dies alles passt in eine Form größer als du oder ich oder sonst jemand.
Ich weiß nichts und muss nichts wissen um ein ganz winziges Weniges zum Lobe des Lebens zu vollbringen.
Hier setze ich jetzt zwanzig Worte her denn es fällt mir nichts anderes ein, was mir mehr Freude machen könnte. Ba de ba do ba dub de di. Dadurch ist etwas geschehen. Liebe ist gar nicht so kompliziert.
Kenneth Patchen, Schläfer erwacht, 1946.
Wir bedürfen des Brotes. Wir sind Wesen, die ihre Energie fortwährend von außen hernehmen, denn in dem Maße, wie wir sie empfangen, verbrauchen wir sie in unseren Anstrengungen. Wird unsere Energie nicht täglich erneuert, werden wir kraftlos und unfähig, uns zu regen.
Außer der eigentlichen Nahrung, im buchstäblichen Sinn des Wortes, sind alle Anreize Energiequellen für uns. Das Geld, die Beförderung, das Ansehen, die Auszeichnungen, die Berühmtheit, die Macht, die Wesen, die wir lieben, alles, was uns zum Handeln befähigt, ist wie Brot.
Dringt eine dieser Verhaftungen tief genug in uns ein, bis zu den Lebenswurzeln unserer fleischlichen Existenz, so kann die Entbehrung uns zerbrechen und sogar den Tod herbeiführen. Man nennt dies: vor Kummer sterben. Das gleicht dem Hungertod.
All diese Gegenstände der Verhaftung stellen, zusammen mit der eigentlichen Nahrung, unser irdisches Brot dar. Es hängt völlig von den Umständen ab, ob es uns gewährt wird oder versagt bleibt.
Und was die Umstände betrifft, sollen wir nichts erbitten, ausser dass sie dem Willen Gottes gemäß seien. Wir sollen das irdische Brot nicht erbitten.
Es gibt eine transzendente Energie, deren Quell im Himmel entspringt, die in uns einströmt, sobald wir es begehren. Dies ist wirklich unsere Energie; sie vollbringt Taten durch unsere Seele und unseren Leib.
Diese Nahrung sollen wir erbitten.
Simone Weil, Betrachtungen über das Vaterunser, 1941/42.
DAS WUNDER AUGE DER EWIGKEIT
Kupferstich zu Jacob Böhme,
„Viertzig Fragen von der Seelen“ Amsterdam 1730.
Lernt! – Sobald ihr alles wisst, vergesst – sachte, zärtlich, so wie man auf dem Kai denen Adieu sagt, die einem teuer sind, lasst die gelehrigen Seiten wie totes Blattwerk zurück, der Geschmack der Früchte bleibt in euch, vergesst mit Wonne, so wie man in einem benachbarten Tempel begangene Diebstähle vergisst, vergesst, wie man die Liebkosungen einer großartigen Frau vergisst, um eine andere, zartere zu lieben, vergesst, so wie man eine erahnte Insel entdecken kann, vergesst, legt in euch selbst dort an, wo tote Blätter und vergangene Liebkosungen verstreut liegen werden, und begebt euch in die Kammern eures Geistes, weckt die Dame mit den Bildern, die eure Seele ist. Vervollkommnet euch, nicht um eurer selbst, sondern um der anderen willen. Genie ist Güte. Streift Altes ab, vergießt eure Früchte, verstreut eure Küsse, und wenn man euch anspuckt, so antwortet mit dem ersten Lächeln eures Meisterwerkes, das von jeher auf eurem tiefsten Grunde brütet.
Saint-Pol-Roux, Der Schatz des Menschen, 1925.
„Ja, ich mache Bilder und Plastiken, und zwar von jeher, seit ich zum ersten Mal gezeichnet oder gemalt habe, um die Wirklichkeit anzuprangern, um mich zu verteidigen, um mich zu ernähren, um stärker zu werden, auf dass ich mich besser verteidigen und besser angreifen kann, um einen Halt zu haben, um auf allen Gebieten und in allen Richtungen möglichst vorwärts zu kommen, um mich des Hungers, der Kälte, des Todes zu erwehren, um möglichst frei zu sein, frei für das Bestreben, mit den Mitteln, die mir heute als die geeignetsten erscheinen, meine Umgebung besser zu sehen und zu verstehen, damit ich in höchstem Maße freier bin: um meine Kräfte zu vergeuden, um mich mit dem, was ich schaffe, möglichst zu verausgaben, um Abenteuer zu erleben, um neue Welten zu entdecken, um einen Kampf zu führen – aus Vergnügen? aus Freude? – einen Kampf um des Vergnügens am Gewinnen und Verlieren willen.“
Alberto Giacometti, 1966.
„Seit die Kunst nicht mehr die Nahrung der Besten ist, kann der Künstler sein Talent für alle Wandlungen und Launen seiner Phantasie verwenden. Alle Wege stehen einer intellektuellen Scharlatanerie offen. Das Volk findet in der Kunst weder Trost noch Erhebung. Aber die Raffinierten, die Reichen, die Nichtstuer und Effekthascher suchen in ihr Neuheit, Seltsamkeit, Originalität, Verstiegenheit und Anstößigkeit. Seit dem Kubismus, ja, schon früher, habe ich alle diese Kritiker mit zahllosen Scherzen zufriedengestellt, die mir einfielen und die sie um so mehr bewunderten, je weniger sie ihnen verständlich waren. Durch diese Spielereien, diese Rätsel und Arabesken habe ich mich schnell berühmt gemacht. Und der Ruhm bedeutet für den Künstler: Verkauf, Vermögen, Reichtum. Ich bin heute nicht nur berühmt, ich bin auch reich. Wenn ich aber allein mit mir bin, kann ich mich nicht als Künstler betrachten im großen Sinne des Wortes. Große Maler waren Giotto, Tizian, Rembrandt und Goya. Ich bin nur ein Spaßmacher, der seine Zeit verstanden hat und alles, was er konnte, herausgeholt hat aus der Dummheit, der Lüsternheit und Eitelkeit seiner Zeitgenossen.“
Picasso bei der Eröffnung einer Ausstellung seiner Bilder in Barcelona, 2.5.1952.
„Vergiss niemals das Anfangsherz!“
Wer werden will, muss kämpfen;
wer es zum Meister bringen will,
muss lernen, unermüdlich sich üben,
und wer ein Meister heißt,
der muss erst recht lernen, üben, ringen.
Anfangen müssen wir alle,
Tag um Tag, Jahr um Jahr,
Lebensepoche um Lebensepoche,
bis ins höchste Alter!
Vergiss Anfangen nicht!
Vergiss den Anfang nicht:
was du im Anfang hattest und was nicht,
im Können und im Nicht-Können.
Und so fahre fort!
Das ganze Leben hindurch!
Und so stehe du mitten im Sein!
Denn wer bist du denn?
„Vergiss den Anfang nicht.“
Vor dir war dein Geschlecht;
von Ahnen her bist du:
Vergiss jenen „Anfang“ nicht!
Du selber bist aber auch Anfang,
deine Zeit ist Anfang.
So sei es ganz!
Im ganzen Sein!
Dein Sein weitergebend!
So werden auch die nach dir,
von dir übernehmend,
wissen und verstehen,
Anfang zu sein.
Zeami Motokiyo, „Blumenspiegel“, ca. 1425.
CENTRUM NATURÆ
Kupferstich zu „Vom dreifachen Leben des Menschen“ aus der Amsterdamer Gesamtausgabe „Alle Göttliche Schriften Jacob Böhmens“ von 1730.
Alle Leben
empfangen
einander
und sind
einander
gesandt
und sind
einander
Kraft
und sind
einander
Wunder
und sind
einander
unbekannt
und sind
einander
Bôteschaft
und sind
einander
Überkraft
und sind
einander
Ârbeit
und sind
einander
Streit.
Cut-up aus dem NIBELUNGENLIED, 1987.
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen, oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben
Und in die Welt wird zurückbegeben,
Wenn sich dann wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
Novalis. Das Gedicht steht in den „Berliner Papieren“ mit Aufzeichnungen
zur Fortsetzung des Ofterdingen, die im Juli/August 1800 niedergeschrieben wurden. Die Handschrift ist verloren.
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